Das KUNST-GESCHOSS Werder würdigt den Dichter Christian Morgenstern und stellt Kunst zu seinem 150+1. Geburtstag aus
Die aktuelle Ausstellung im KUNST-GESCHOSS Werder ist einem deutschen Dichter gewidmet, Christian Morgenstern (1871-1914). Die Ausstellung eröffnet 150+1 Jahre nach seiner Geburt, mit einem Jahr Corona-Säumniszuschlag.
Ein Dichter im KUNST-GESCHOSS?
Nun ja, immerhin zählt Morgenstern zu den gesalbten Häuptern der Stadt Werder. Auf der Bismarckhöhe residiert seit 2014 das europaweit einzige Christian-Morgenstern-Literaturmuseum, eine Würdigung des Dichters zu dessen 100. Todestag. Und seit 2018 gibt es die Christian-Morgenstern-Gesellschaft in Werder mit Freude am Erforschen und Verbreiten seiner Fabulierkunst.
Aber nochmal: Eine Kunstausstellung für einen Sprachkünstler? Gehen Werder die Talente und der Stadtgalerie die Puste aus? Ist Galgenhumor angesagt? Ja, aber anders, als man denken mag. In Werder liegt der Galgenberg. Nein, kein Hügel mit überliefertem mittelalterlichen Hinrichtungsritus. Viel lieblicher: eine Weinlage aus dem 16. Jahrhundert, die heute noch vom Weinverein Werder kultiviert wird. Hierin, genauer in das gleichnamige Restaurant Galgenberg, zog es den Mittzwanziger Morgenstern mit seinen Berliner Freunden zum Gelage, zur boys' night im heutigen Jargon. Und hier deklamierte der Dichter zur Belustigung seiner Freunde seine humorigen Verse, die er "Galgenlieder" nannte. Mit diesem neuen lyrischen Genre kam er zu anhaltendem Ruhm und relativem Reichtum. Der "Bund der Galgenbrüder" wurde hier 1895 aus feuchtfröhlicher Taufe gehoben.
Politisch zeitgemäß wurde das Anwesen
zum Ende des 19. Jahrhunderts in "Bismarckhöhe" umgetauft.
Letzter Anlauf zur Lösung der Frage: Wie kommt Morgenstern mit Künstlern unter einem Dach zusammen? Es hat sich jemand gekümmert.
Niemand anderes als Frank W. Weber, Kurator der Stadtgalerie, selbst Werderaner und freiberuflicher bildender und konzeptioneller Künstler.
Kurator Weber hatte im Herbst 2020 eine Idee und ein Format zur 150-Jahr-Ausstellung, die 2021 stattfinden sollte:
Die Idee, dem Dichter Christian Morgenstern mit festem Platz in der städtischen Gemeinschaft ein Revival zu bescheren - in aktuellen Kunstwerken, die sich thematisch mit dessen Sprachkunstwerk beschäftigen, ganz gleich, ob im Medium von Malerei, Grafik oder Plastik.
Als Ausstellungsformat zum vierten Mal seit der Eröffnung der Stadtgalerie im Jahr 2008 die sog. Bestandsaufnahme fortzusetzen: eine Ausstellung mit Werken allein von Werderaner Künstlern.
"Von etwa 40 künstlerisch Beschäftigten in Werder haben sich 20 zu dieser Ausstellung angemeldet", freut sich der Kurator. "Eine Ausstellung, deren Beteiligungshürden ganz flach aufgestellt sind. Juryfrei, Wohn- oder Arbeitsort Werder, von professionell über semiprofessionell und Hobbykünstler."
2008 stieß die "Bestandsaufnahme" in der Stadtgalerie zunächst auf rigide Ablehnung: "Weber vermengt die museale Kunst mit der Kunst von heute, noch dazu befinden sich Arbeiten von Laien darunter", so tönte es damals abschätzig aus etablierten Kunstkreisen. Kurz darauf die Gesinnungswende: Würdigung durch Kultusministerin, Bürgermeister und die Presse. Man sprach von einer "Kulturrevolution im [KUNST-] GESCHOSS", so zitiert der Kurator eine Titelzeile in der pnn von damals.
Inzwischen ist die "Bestandsaufnahme" Kult in Werder: "Wir haben viele Menschen in unserer Gesellschaft, die nicht mehr am Arbeitsleben teilhaben können. Wie wird diese Zeit genutzt? In den seltensten Fällen für kreative, schöpferische Arbeit, die dazu dienlich sein kann, sein eigenes Selbstwertgefühl zu erhalten. Da liegt unwahrscheinliches Potential für unser aller Zukunft. ... Und, was hat das mit unserer Bestandsaufnahme zu tun? Rein bildlich befinden wir uns dort, wo allen das Gefühl gegeben wird, dass wir das schaffen, ich kann dabei sein, ich habe einen Wert für die kleinstädtische Gesellschaft. Und wenn wir es so im Großen und Ganzen betrachten, sind wir mit der Bestandsaufnahme in Werder auf dem richtigen Weg."
Frank W. Webers Credo als Künstler und Kurator: "Es ist wichtig, in seinem heimatlichen Umfeld Präsenz zu zeigen, unabhängig, ob Berufskünstler, Semiprofessioneller oder Amateur, und es ist wichtig, diese Möglichkeit auch geboten zu bekommen" (Flyer zur Ausstellung). "Das ist gelebte Demokratie, ich kann mich selbst dafür entscheiden mitzumachen oder nicht" - Webers Worte zur Eröffnung finden reihum Anklang.
Diese 20 Kunstschaffenden machten sich ans Werk zur Jubiläumsausstellung:
ARATORA (Frank W. Weber) - Sandra Dahlmann - Helga Dobrick Kroeber - Alexandra Czech - Katharina Forster - Anne-Kathrin Fuchs - Anna Gestrich - Almute Grohmann Sinz - Chang Ok Han - Gabriele Karele - Gudrun Kreische - Evelyne Kühnapfel - Regina Lunderstedt - Gudrun Mader - Oda Schielicke - Beate Schwarz - Doris Sprengel - Hans-Joachim Stahlberg - Holger Triltsch - Birgit Wischnewski
"Eine Maskerade mit purem Individualismus" (F. W. Weber)
Noch hat Anfang 2022 Corona das öffentliche Leben im Griff. Der Umgang der Regierenden mit dem Virus macht die für den 9. Februar 2022 geplante Vernissage mit geladenem Publikum durch unbeirrt fortgesetzte Distanzmaßnahmen zunichte.
"Die neue Corona-Verordnung schreibt künftig FFP2 Masken vor", konstatiert der Kurator in seiner Ansprache und fährt in seiner bekannten feinhumorigen Art fort: "Also nach zwei Jahren hat es 1 Modell geschafft, sich auf dem Markt zu behaupten, damit ist das Thema Maske marktwirtschaftlich bereinigt. Politik und Industrie greifen da ganz massiv ineinander."
So präsentieren sich die 20 Ausstellungskünstler auf einer Corona-gerechten Maskerade:
mit Bürgermeisterin Manuela Saß,
Kurator Frank W. Weber und (nicht im Bild) Pressesprecher Henry Klix und der Lokalen Bloggerin vom Schwielowschwatz.
Die Nahaufnahmen (von Henry Klix) rücken Individualität in künstlerischer Verhüllung in den Blick:
Rundgang durch die Ausstellungsräume
"Das Miteinander hat gefehlt in der letzten Zeit, das Lachen miteinander", bedauert Manuela Saß in ihrer Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung. Damit trifft sie einen wunden Punkt bei allen in der kleinen Zuhörerrunde.
Zum Ausgleich lenkt sie den Blick auf den erheiternden bis nachdenklich stimmenden, aber stets einfallsreichen Umgang der Künstler mit ihrem Sujet Christian Morgenstern, dem sie dadurch "ein Stück Leben einhauchen." Sie ist sicher, "dem Dichter wäre ein cooler Spruch dazu eingefallen oder ein neues Gedicht" - ganz im Stil seines feinen Humors. Und "verstanden" und "daheim", so wird mir jetzt klar, hätte er sich posthum wieder einmal in Werder gefühlt (s. Artikelüberschrift).
Mit ihrer verlockenden Ankündigung möglicher Festivitäten zur Midissage oder Finissage der Ausstellung entlässt die Bürgermeisterin uns auf das Parkett der KUNST-GESCHOSS-Räume.
Klicken Sie hier: https://youtu.be/mbWVyD58tN4
und lassen Sie sich mitnehmen auf einen ersten Rundgang durch die Ausstellung zu einem historisch ein-/erstmaligen 'krummen' Geburtstag "150+1".
Wer sich mit diesem Video Appetit für die Sinne geholt hat, kann auf seinen vollen Genuss in der Stadtgalerie KUNST-GESCHOSS kommen. Die Ausstellung läuft bis zum 27. März 2022, sie ist donnerstags, samstags und sonntags geöffnet, immer von 13 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei.
Wer gespannt ist zu erleben, wie einzelne Künstlerinnen und Künstler ihre Wahrnehmung von Christian Morgenstern in ihrem Werk zum Ausdruck gebracht haben, kann sich auf weitere Artikel zur Ausstellung in meinem Blog freuen.
Zum (vorläufigen) Schluss - eine Kostprobe zur künstlerischen Allianz von Sprach- und Malkunst:
Palmström, etwas schon an Jahren, wird an einer Straßenbeuge und von einem Kraftfahrzeuge überfahren. »Wie war« (spricht er, sich erhebend und entschlossen weiterlebend) »möglich, wie dies Unglück, ja — daß es überhaupt geschah? »Ist die Staatskunst anzuklagen in Bezug auf Kraftfahrwagen? Gab die Polizeivorschrift hier dem Fahrer freie Trift? »Oder war vielmehr verboten« hier Lebendige zu Toten umzuwandeln, — kurz und schlicht: Durfte hier der Kutscher nicht?« Eingehüllt in feuchte Tücher, prüft er die Gesetzesbücher und ist alsobald im Klaren: Wagen durften dort nicht fahren! Und er kommt zu dem Ergebnis: Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf. | "... Wenn man über Land fährt, begegnen einem immer wieder Kreuze als trauriges Zeugnis für tödliche Unfälle. Sie sollen nicht nur Trauer anzeigen, sondern Autofahrer zum aufmerksamen, langsameren und rücksichtsvolleren Fahrstil anregen. Aber wie schnell ist man vorbeigefahren und gibt sich dem Gefühl der eigenen Sicherheit hin. Wir denken weiterhin, unser glänzendes Statussymbol ist der sicherste Ort der Welt. ... Dass ich richtig verstanden werde, auch ich fahre gern mit meinem Auto ... Aber worum es mir geht ist, dass wir uns bewusst machen, dass unser Auto eine gefährliche Waffe ist." |
Christian Morgenstern, "Die unmögliche Tatsache" (1909, "Galgenlieder") | Helga Dobrick Kroeber, "Kollateralschaden" (2021) |
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