Kunstschüler aus Werder sind neugierig auf Wim Westfields Unterwasser-Abenteuer in der Ausstellung "Sea & Sirens"
Das ist Coco, in Freikörperkultur und graziös im seichten Meereswasser unterwegs. Und sie schrieb den begeisterter Titelsatz aus Französisch-Polynesien. Das ist ein Inselreich im Südpazifik, weit weg von Deutschland und weit östlich von Australien, und diesen Kontinent nennt man schon down under. Wie sieht's da aus, in Polynesien, am anderen Ende der Welt? Bungalow-Hotels direkt über dem Wasser, wie Perlen auf eine Schnur gezogen. Weiße Strände. Flache Lagunen, von Korallen umgeben, der Whirlpool zwischen Korallenriff und Ufer von Zitronenhaien bevölkert, friedfertige Raubfische. Einer von ihnen ist Cocos Schwimmpartner im Foto. "Ocean Feeling" ist der beruhigende Titel.
Ein Paradies? Ja, schon, aber Paradies hat seinen Preis: Man muss sich wie Coco unerschrocken auf ein kalkuliertes Risiko einlassen wollen.
Coco wollte. Als frischgebackene Abiturientin hatte sie sich als Fotomodel beim Abenteurer & Fotografen Wim Westfield beworben. Die Locations? Mittelmeer, Atlantik, Pazifik, Indischer Ozean, Südsee. Festlandziele: Kroatien, Südafrika, Polynesien, Karibik, Hawaii - rund um den Globus! Als Unterwassergefährten waren im Angebot: Haie verschiedener Arten, Rochen auch, Wasserschildkröten, Krokodile, schäumende Brandung, gigantische Meereswellen. Alle Meerestiere von kundigen Guides für den Anlass des Fotoshootings auf friedfertigen Kurs gebracht. Risiko für Model und Fotograf im Griff!
Clevere Freizeit- und Geschäftsidee damals von Coco, um den wochenlangen Müßiggang zwischen Schule und Studium zu überbrücken! Was war der Deal?
Free air ride, free meals, free room, free company, a couple of dollars - das waren die finanziellen Verlockungen.
Sportliche Figur, mehr als Seepferdchen-Schwimmerfahrung, Kopfsprung mit offenen Augen und lächelndem Mund, natürlicher Umgang mit Nacktheit, angstfreie Begegnung mit dem Meereswasser und seinen Bewohnern, Ausdauer im Tauchen und Posen - das waren die physischen und psychischen Voraussetzungen.
Unvergessliche Seh-See-Erfahrungen, einzigartige Unterwasseraufnahmen von Wim Westfield, der in den Meeren rund um die Welt drei Urgewalten vor die Kamera lockt:
die Kraft des Wassers,
die Schönheit der Frauen und
die Urbewohner der Unterwasserwelt
- das war der Gewinn für Coco und ihren Wagemut.
Und gewonnen hat sie! Coco ist im Modelgeschäft geblieben. Freiberuflich. Gelegentlich. Hauptberuflich lief es anders: Die Studienzeiten kamen, akademische Abschlüsse, Berufsangebote. Heute ist Coco 41 Jahre jung und Professorin für Vogelkunde. Schönheit, Anmut und Intelligenz lassen sich kombinieren. In den nächsten beiden Fotos hat Wim Westfield sie als 36-Jährige hoch hinauf in römische Ruinen an der kroatischen Küste geschickt und zu unterschiedlichen Tageszeiten belichtet:
Und das ist der Kunstkurs der Jahrgangsstufe 11 vom Ernst-Haeckel-Gymnasium in Werder, am 6. September 2021 ab 10:15 Uhr auf Exkursion in der Stadtgalerie KUNST-GESCHOSS:
Die Schülerinnen und Schüler staunen auf ihrem Rundgang durch die Ausstellung Sea & Sirens über Wim Westfields Fotos in und am Ozean und stehen nun vis-à-vis vor dem Fotografen selbst.
"Heute könnt ihr mal einen Künstler direkt kennenlernen," motiviert Cornelia Grasnick, Tutorin und Kunstlehrerin, ihre Schülergruppe für diese ungewöhnliche Begegnung. Denn die Ausstellung ist seit einem Tag beendet. Finissage war gestern. Die Lehrerin hat ihre Beziehungen zur Stadtgalerie und zu Kurator Frank Weber spielen lassen und diesen Exklusiv-Termin mit dem Fotografen ausgehandelt.
Wim Westfield - das ist der Künstlername des Meeres-Fotografen. In der DDR geboren, systemkritisch und fluchtbereit bereist er als freischaffender Künstler mit Sonder-Ausreise-genehmigung seit August 1989 die Welt und ihre Meere, ist nach der Wende in Travemünde gelandet, hat dort sein Festland-Quartier aufgeschlagen und seine Galerie Sea & Sirens für dauerhaften Kunstgenuss eröffnet. Seine Devise: vor Anker gehen ist gut, Abenteuer bringen dich weiter!
Der Fotograf erzählt den jungen Leuten aus Werder etwas über sich und seine Fotos.
"Meeresfotografie - das ist mein Job. Auch für bekannte internationale Meeres-Magazine wie Mare, Geo und Yacht. Alle Fotos sind echt, nichts ist im Fotoshop online gebastelt, kennt ihr ja.
Die Fotos, die ihr hier in der Ausstellung seht, sind mit dieser digitalen Spiegelreflexkamera in meiner Hand und auswechselbaren Objektiven gemacht worden. Alles 100%ig wasserfest und druckfest bis zu 80 m unter Wasser. Man muss ordentlich die Knöpfe drücken. Bis zwei Meter unter Wasser habe ich natürliches Licht, aber im Grunde schieße ich meine Serien- fotos blind, ob ein gutes dabei ist, stelle ich erst danach fest. Meine Bilder hier in der Galerie sind keine Digitaldrucke, die wären kurzlebig. Ein Labor stellt sie im DiaSec-Verfahren her, sie werden auf AluDibond gebrannt, darauf kommt eine lichtbeständige Silikonschicht, zum Schluss wird das Foto hinter Acrylglas mit UV-Schutz versiegelt. Dieses Verfahren gibt den Bildern mindestens 75 Jahre unveränderte Farbbrillanz.
So, jetzt seid ihr dran - eure Fragen!"
Schülerin: Was hat Sie dazu bewegt, Meeresfotograf zu werden?
Wim Westfield: Mein großes Vorbild war Ernest Hemingway, der US-Amerikaner. Er war ein Abenteurer: Hochseefischer, Großwildjäger, Reporter auf Kriegsschauplätzen, Schriftsteller und reiste um die Welt. Ich habe dann auch Journalismus und Fotografie studiert, Foto-aufträge für internationale Magazine angenommen, in Kroatien, in der Südsee, weltweit, und habe mit dem Model Shooting angefangen.
Schülerin: Wie werden die Orte für die Fotos ausgewählt?
WW: Das ist ein ganz wichtige Frage! Also, ich fahre ja nicht einfach so los. Durch meine Jobs für Meeres-Magazine habe ich ja schon meine Einsatzorte. Zum Beispiel hatte ich für ein Magazin den Auftrag, eine Unterwasser-Reportage zum "Kreuzweg Jesu" vor der Küste von Kroatien in Trogir zu bebildern. Da haben sie 52 Riesenstatuen, bis zu 8 m hoch und bis 10 t schwer, in den Meeresboden gesenkt, für die 14 Stationen auf dem Kreuzweg. Hab ich gemacht, die Bilder für die Reportage, und dann meine Models einfliegen lassen, um mit ihnen meine Meeres-Aktfotos - so kann man sagen, den sie haben ja wenig an oder gar nix - unter oder am Wasser zu schießen. Da in Kroatien ist zum Beispiel das Foto hinter mir an der Wand, "Jesus Below Surface" mit Model Julie, entstanden. Damit das Model nicht so tief tauchen musste, hat man uns netterweise die 10-Tonnen-Figur hochgezogen - ihr seht die beiden Ringe auf der Schulter.
Schülerin: Wie lange dauert es, bis so ein Foto - mit dem Krokodil zum Beispiel - entsteht?
WW: Das ist völlig verschieden. Nehmen wir mal das Foto mit dem Zitronenhai: [MM zeigt auf "Ocean Feeling"]: Das Model springt in die Lagune, die ist nicht sehr tief, und der Hai haut ab, ist erschrocken. Der zweite Sprung: Das Model umarmt den Hai, beim dritten Sprung umarmt sie mich, netter- oder fälschlicherweise, der Sand im seichten Wasser wird jedes Mal aufgewirbelt - Sch..., kein Foto möglich. Für dieses Foto ist Coco, das Model, 200 Mal gesprungen!
Mit dem "Whale Shark" hatten wir mehr Glück:
Ich war zuerst im Wasser und hab Juliette vorher gesagt: Ich geh runter und wenn ich nicht wieder hochkomme, ist er da, der Walhai. Ich geb dir ein Zeichen und du springst. Das Model springt, zack, gleich der erste Schuss sitzt. Foto im Kasten. Shooting vorbei.
Und beim "Cuban Croc" dauerte die Annäherung länger:
Dieses Croc lebt vor Kuba, in den Gärten der Königin (Jardines de la Reina), das ist ein Wassernaturschutzpark 50 Seemeilen (100 km) vor der Küste, den die Castro-Brüder über 50 Jahre vom Tourismus und der Fischerei abgeschirmt hatten. Also Null-Kontakt zwischen Krokodilen und Menschen: keine Fluchtdistanz, keine Aggression, keine Neugier, wenn ein Mensch auftaucht. Das muss man wissen, bevor man abtaucht. Und trotzdem: Zusammen mit einem Guide habe ich ein Tier mit einem Hühnerbein aus seiner Gruppe weggelockt, bin ca. eine Dreiviertelstunde mit ihm geschwommen, hab dabei immer ein Auge auf das Reptil gehabt. Aber es blieb friedlich. Und dann war Juliette bereit zum Sprung. Hier im Bild schwimmen beide aufeinander zu, fast lächelnd und beide völlig angst- bzw. aggressionsfrei: Arme bzw. Vorderläufe nach hinten gestreckt.
Schüler: Welches Licht brauchen Sie bei Ihren Unterwasseraufnahmen?
WW: Jede Tageszeit hat was. Bis 14/15 Uhr ist es ideal, da fällt das Licht senkrecht und bricht sich im Wasser.
Und Sandboden ist ideal, er reflektiert das Licht, sodass es im Bild nicht oben leuchtet und unten schwarz ist.
Und am Abend gibt es eine ganz besondere Stimmung im warmen Licht, aber eher über Wasser, wie in "To Water".
Schüler: Was sind das für Frauen, die sich als Model bewerben?
WW: Abiturientinnen, ihr seid ja auch bald so weit [WW lacht], und andere junge Frauen, die sportlich und mutig sind, die das Abenteuer lieben, was erleben wollen. Und die auf ihren Körper geachtet haben.
Oder auch Profi-Models, wie zum Beispiel Julie im "Mandarin Boat":
Schüler: Welche Kleidung tragen die Frauen?
WW: In meinen Fotos posieren Aktmodels, es geht um Nacktheit, aber so, dass man doch nichts sieht oder wenig oder nix Genaues. In "Polynesian Orange" trägt Emilia Chiffon, das ist ein ganz leichter Stoff, der im Wasser schwebt und nicht am Körper klebt. Und dieses Foto ist das beste, von Hunderten ausgewählt.
Lehrerin: Wie teuer ist so ein Bild in der Herstellung? Und können Sie vom Verkauf Ihrer Fotos leben?
WW: Ich lasse meine Bilder in Düsseldorf herstellen, für etwa € 800 netto pro Quadratmeter, mit Mehrwertsteuer knapp € 1.000. Das Labor nimmt Vorkasse. Herstellung und Verkauf - das macht in etwa +/- Null. Allein davon zu leben? Schwer! Dann kommen noch die Flugreisen für die Models dazu. Also, wie gesagt, ich kombiniere Auftragsarbeiten und private Foto-serien am selben Ort. Ich werde von den Magazinen bezahlt, Flug usw., und die Models von mir. Für einen Gewinn müssten meine Bilder drei- bis viermal so teuer sein. Die größten und teuersten auf dieser Ausstellung hier in Werder kosten maximal € 5000. Mehr geht nicht, verkauft sich nicht. Andererseits: Ich stelle nur kleine Auflagen her, 6 Stück pro Foto, alle Bilder werden von mir handsigniert. Schon eine Wertanlage für den Käufer, oder?! Aber leben? Na ja, mit meinen bezahlten Aufträgen für die Meeres-Magazine komme ich schon zurecht.
Lehrerin: Ich bin so froh, dass wir hier sein und Ihre Fotos noch bewundern konnten. Wir haben viel gesehen, gehört und gelernt.
Schülerin: Ich komme bestimmt noch einmal mit meinen Eltern wieder.
WW: Leider ist diese Ausstellung in Werder jetzt zu Ende. Wir räumen heute ab.
"Bus fährt um 11:26 Uhr. Dann mal los!" Lehrerin und Gymnasial-Lehrlinge ziehen ab. Von einem Schüler ergattere ich noch ein persönliches Statement. Was das Überraschende für ihn heute auf der Ausstellung war? "Die anderen Motive", sagt er. "Bisher kannte ich nur Ölgemälde mit Landschaften und Blumen und so." Welche anderen Motive? Meere, Tiere, Frauen? "Frauen, ganz klar", grinst er (mit den Augen, ist ja Maskenpflicht) und verschwindet schnell.
Kurz nach 11 Uhr am 6. September 2021. Die Bilder der Ausstellung Sea & Sirens werden für den Rücktransport nach Travemünde abgehängt und eingepackt. Wim hat flinke Helfer, Kurator Frank Weber und Siegrun Scheiter, Wims Assistentin. Sie folgt ihm nicht nur zu Land, auch unter Wasser und macht Fotos vom Fotografen.
Von Siegrun erfahre ich noch ein paar Abenteuer-Interna im Plauderton.
"Dieses Foto mit Jule, 'Fireball', war ungeplant, es entstand zufällig in einer Pause. Es war kalt und windig, das Shooting klappte nicht. Wim winkt ab. Das Model rollt ihr Chiffontuch ein, klappt auch nicht so richtig, der Wind ist gegen sie - und dann: Wims Auge sieht mehr, seine Kamera macht diesen Schuss!" Ein Glückstreffer!
"Und hier", fährt Siegrun fort, "in 'Jesus in the Vineyard', sind die Steinfiguren in der Felswand auch so gut wie nackt, wie unser Model Anja. Hat niemanden damals gestört. Heute, bei Wims Aktfotos, hört man von Besuchern schon mal im Flüsterton was von, ehm, FKK, Freizügigkeit und so."
Ja, die feine Trennlinie zwischen erotischer Ästhetik und unverholener Körperschau! Ist nicht immer im Auge des Betrachters. Schade eigentlich. Aber in Wims Meisterschaft! Und das zählt! Für mich. Und andere.
Epilog Etwas aus Siegruns Geschichte treibt mich noch um. Das Steinrelief in "Jesus in the Vineyard". Wie lange liegt "damals" zurück und wo liegt das Relief? Christliche Motivik, heiße Sonne auf Felswand ... Israel womöglich? Christlich ja, Nahost nein. Das ergibt sich aus meiner Montagsfrage an Wim und seiner prompten Mailantwort: "Am Zusammenfluss von Saale und Unstrut, also zwischen Naumburg und Freyburg. Auf dem steinernen Relief steht das ehemalige Haus von Max Klinger."
Aha! Entdeckergeist geweckt. Mit Google geht's weiter.
Das ist das Max-Klinger-Haus, hochgelegen auf seinem Weinberg nahe der Ortschaft Großjena in Sachsen-Anhalt. Max Klinger (1857 - 1920) war Bildhauer, Maler und Grafiker aus Leipzig.
Das Felsrelief auf mittlerer Höhe im Foto rechts, etwas unscharf in der Bildvergrößerung unten (sorry, keine Wim-Qualität), stammt aber nicht von Klinger. Es wurde 1772 für den damaligen Besitzer des Weinbergs in Auftrag gegeben. Das 200 m lange "Steinerne Album" zeigt in 12 Bildern Szenen aus dem Alten Testament, die sich um Anbau, Ernte und Genuss von Wein und dessen bekannte Folgen drehen.
Trefflich gewählt, Wim, dieser Bild-hintergrund für Anja mit ihrer Kiepe voller Weinreben! Illusion gelungen! Der Bildausschnitt des Fotografen schafft die Illusion eines Sonnen- und christlichen Ursprungslandes. Trauben und Wein gehörten im Land der Bibel zu den wichtigsten Nahrungsmitteln. Das Model mit Lendenschurz, gebeugter Haltung und Blick nach vorn bringt die urchristlichen Sandsteinfiguren wieder zum Leben. Bibelweisheiten reloaded? Nicht mehr?
"Ohne Wein und ohne Weiber hol' der Teufel uns're Leiber",
wusste Dichterfürst und Weintrinker Goethe. Wim Westfield liefert dazu einen ästhetischen Bildimpuls.
Hinweis: Die Bildrechte an den Ausstellungsfotos liegen bei Wim Westfield. Die Personenfotos aus der Stadtgalerie stammen von Galerist Frank Weber. Beide haben ihre Fotos für meinen Blog freigegeben.