Berührende Begegnungen mit Fotos aus ukrainischen Friedens- und Kriegszeiten in der Landeszentrale für politische Bildung in Potsdam
"Es ist nicht kaputt. Es steht heute noch!"
Zwischen freudigem Schreck und rasch abgewischten Tränen der Verzweiflung schwankt Viktoriia, als sie auf einem 2015er-Foto in der Landeszentrale für politische Bildung plötzlich ihr Zuhause in Kiew wiederentdeckt. Auf beiden Ufern des Dnpre gelegen, bot Kiew für Viktoriia und ihre Familie wirtschaftlichen Wohlstand und Freizeitvergnügen an einem Fluss, der über die Länge von mehr als 2200 km die Ukraine mit ihren Nachbarländern Belarus und Russland verbindet und bis zum Schwarzen Meer führt.
Mit dem russischen Angriffskrieg seit Februar 2022 ist "alles verändert", die völkerverbindende Achse gerissen, der Fluss zum militärischen Hotspot geworden. So sprengten etwa ukrainische Streitkräfte im Juli 2022 - im November auch die Russen auf ihrem Rückzug - die Antoniwkabrücke im Süden des Landes
und schnitten damit den Transportweg russischer Truppen ins besetzte Cherson und weiter auf die annektierte Krim ab - ein strategischer Wendepunkt für die wehrhafte Ukraine im umkämpften Süden.
"Wir hatten ein normales Leben"
Dr. Sebastian Stude (links im Bild unten) ist Referent für Ausstellungen und Öffentlichkeitsarbeit in der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung. Er lud auf meine Anfrage meinen ukrainischen Integrationskurs beim bbw Bildungswerk der Wirtschaft ein zu der aktuellen Ausstellung in seinem Hause mit ca. 50 Fotos zum Thema "Wir hatten ein normales Leben" in der Ukraine. Angekündigt hatte er ein emotional dichtes Erlebnis - und sollte damit auch Recht behalten. Am 15. Mai 2023 schenkt er den sichtlich betroffenen Ukrainerinnen und Ukrainern aus meinem Deutschkurs seine volle sachkundige wie empathische Aufmerksamkeit.
In zwei getrennten Ausstellungsräumen sehen wir Fotos von der Ukraine vor und nach dem 24. Februar 2022, dem Tag der russischen Invasion in die Ukraine. "Ukraine 2006-2023" heißt entsprechend der Untertitel der Fotoserie von internationalen Fotografen, die zunächst mit ihrer Kamera dokumentarische Ausschnitte von Menschen in einem friedlichen Land einfingen, seit 2022 aber Momente der Zerstörung in einer zivilen Gesellschaft festhielten. Immer stehen Menschen in ihrem Lebensumfeld im Fokus der Kameralinse und der Kuratoren der Ausstellung, ganz im Sinn des politischen Bildungsauftrags der Landeszentrale.
"Wir wollten wissen, was der Krieg für die betroffenen Menschen bedeutet. ... Es kommen Menschen zu Wort, die aus der Ukraine fliehen mussten und die heute in Brandenburg leben", erklärt Sebastian Stude das Ausstellungskonzept der Landeszentrale.
Anfang Mai 2023 war bereits eine andere Gruppe an Zeitzeugen in der Landeszentrale zu Besuch, der Sprachkurs meiner Kollegin Barbara Tauber beim bbw. Ihre Interviews mit fünf ihrer Kursteilnehmer, ausgestellt in zimmerhohen Schriftstücken, ergänzen das Ausstellungskonzept der Landeszentrale um Dimensionen gelebter Landesliebe, erfahrener Kriegsschrecken und geglückter Ankunft in brandenburgischen Gastfamilien und Sprachkursen.
So zerrissen klingt es in diesen Interviews mit geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern (die vollständigen Texte sind unter dem blauen Link zu lesen): ein Leben zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Ohnmacht und Widerstand, zwischen Heimatverlust und Integration im deutschen Gastland, zwischen Rettungsfreude und Rückkehrwunsch.
„Mein Kind soll nicht im Krieg aufwachsen. ... Meine Hoffnung ist, dass ich hierbleiben kann. Ich wünsche mir einen guten Job mit gutem Gehalt, der mich erfüllt."
„Ich fühle mich gefangen zwischen der Erwartung, dass wir uns integrieren und dass meine Tochter in der deutschen Schule ankommt, und meiner Seele und meinem Herzen, die nicht loslassen können, weil unser Land in Not ist.
"Mein Mann ist noch immer in Lwiw und hat dort keine Arbeit. In den letzten neun Monaten haben wir sehr Unterschiedliches erlebt. Wir sind verschiedene Wege gegangen. Ich weiß nicht, wo uns das hinführt. ... Der Krieg hat alle unsere Pläne zunichte gemacht und ich weiß noch nicht, wie die Zukunft aussehen könnte."
"Ein Blitzlicht voller Hoffnung"
so nennt Sebastian Stude eine Passage aus einem anderen Interview und liest vor:
"Ich hatte Glück. Ein Ehepaar, das so alt ist wie ich, hat ein großes Haus. ... Sie gaben mir ein Zimmer. Es ist sehr schön hier. Manchmal kochen wir zusammen. Manchmal sehen wir abends zusammen fern und trinken ein Bier."
Ein friedvolles deutsch-ukrainisches Alltagsleben - ein Lichtblick zwischen trüben Gedanken:
"Warum musste es zum Krieg kommen? Meine Tochter ist russisch und mein Sohn ukrainisch. Das, was jetzt passiert, kann ich nicht verstehen. Es ist sehr traurig."
"Als die Ukraine noch hell war"
Mein Kurs schwärmt aus über die Ausstellungsfläche und erlebt ein Wechselbad an Gefühlen und Erinnerungen.
Die beiden Jüngsten, Tetiana (Baby) und Vlad, erhellen den Besuch mit ihrem leichten Smalltalk in einer Pause:
Ein lockeres Konsumgespräch ergibt sich vor einem Erinnerungsfoto:
Svitlana (3. Foto: 2.v.l.): Es gibt viele, viele kleine Märkte in der Ukraine.
Anna (1. Foto: 2.v.l.): Aber dieser hier ist groß, sehr groß.
Yaroslav: Ja, in Odessa.
Sebastian Stude: Warum heißt er "Sieben-Kilometer-Markt"? Weil er so lang ist?
Svitlana: Hm, weiß nicht ... nee, ist 7 km weg von Odessa.
Sebastian Stude: Ist der offiziell oder illegal, der Markt?
Svitlana: Nein, nein, der ist offiziell.
Hilda: Ein Wochenmarkt?
Anna: Ja, ja, alle Tage.
Svitlana: Ganzen Tag.
Anna: Das ist der größte Bazar der Ukraine. Aber es ist alles fake. Billig. Aus China. Sie können dort alles zu einem guten Preis finden. 1, 2 oder 3 Euro.
Svitlana: Ja, alles für günstigen Preis. Wie bei Kik.
Wie verstörend anders wirken auf uns auf unserem Rundgang durch die Ausstellung die Lebensstandards nach Ausbruch des Krieges. Etwa Improvisationen bei Stromausfall, wenn im Schnee an einer Feuerstelle ein Geburtstagsessen nicht aus Nostalgie, sondern aus einfallsreicher Not gegart wird. Oder Zufluchtsuchende in provisorischen Zeltunterkünften im aufnehmenden Nachbarland Polen bzw. in U-Bahn-Stationen im gefährdeten Land (diese und mehr Fotos in diesem Raum):
Noch ein Kontrastprogramm vor und nach dem 24. Februar 2022. Ein Kind im geschützten Raum von Kirche und Familie wird getauft:
Svitlana: Wie heißt das?
Hilda: Taufe.
Svitlana: In der Ukraine ist Baby ganz im Wasser. Runter, runter. In Deutschland auch?
Hilda: Nein, nur ein bisschen Wasser auf den kleinen Kopf.
Svitlana: Oh. In Ukraine besser: Kind lernt schwimmen.
Ein anderes Kind hängt an lebensrettenden Kanülen:
Nataliia (Kinderärztin): Kein Krankenhaus.
Hilda: Nein, Notunterkunft. Irgendein Raum. Eine Stadt, in der draußen geschossen wird. Pappe und Säcke vor dem Fenster gegen die Bomben und Granaten.
Nataliia: Und Kind? Wiederbelebung! Viel Glück!! (hält Tränen zurück)
Und wieder ein Schwenk ins friedlich pralle Leben in Kiew vor dem Krieg - mit Landwirtschaft, mit Badespaß am Strand auf einer der großen Flussinseln im Dnepr und mit bescheidenem Gartenglück:
Zurück im Unglück. Verkehrswege in Kiew zerstört. Lebenswege auch? Nein. Nicht mit Svitlanas Optimismus und Entschlossenheit:
Zurück im Brandenburgischen Leben
Der ukrainische Spitzenklub Shakhtar Donezk trägt gegenwärtig seine Heimspiele in der Champions League in Warschau im Nachbarland Polen aus - kriegsbedingt.
Das erfährt Sebastian Stude im Männergespräch mit Vladyslav. Die Spiele gehen weiter? Um den Schein der Normalität zu wahren? Beginn einer Zwei-Länder-Freundschaft? Zwei Männer fachsimpeln. Vlad taut auf, taucht ein in den Hobbysport eines 18-Jährigen, selbst in einem Potsdamer Verein aktiv, für Momente unberührt von Krieg und Flucht, von Deutsch- und Deutschland-Lernen:
Am Rande der Ukraine-Ausstellung in der Brandenburgischen Zentrale für politische Bildung, nach 90 Minuten wechselvoller Begegnungen mit ihrem Heimatland, nimmt für "meine" Ukrainerinnen und Ukrainer das Brandenburgische Leben wieder Fahrt auf. Schon seit einem Jahr ist Potsdam zwar nicht die Wahlheimat, aber doch ein sicherer gesellschaftlicher Hafen für meine Kursmitglieder - der vielbesuchte Havel-Hafen in der Innenstadt tut sein Übriges, um ihnen ein Gefühl von Normalität zu geben. Dnpre - déjà vu.
Acht Monate mit 600 Stunden Deutsch - vier Stunden an fünf Tagen pro Woche - liegen gerade hinter ihnen. Die erste Sprachhürde ist genommen, die B1-Prüfung am vorangegangenen Freitag (12.05.) geschafft, aber noch nicht bestanden. Die Zitterpartie bis zu den Ergebnissen dieses bundesweit standardisierten und zentral ausgewerteten Prüfungsformats von BAMF soll vier Wochen oder länger dauern. Der Anschlusskurs - 100 Stunden "Leben in Deutschland" - hat schon begonnen. Das Programm der Landeszentrale für politische Bildung ist darin ein willkommenes anschauliches Modul für meinen Kurs.
Die Exkursion zur Ausstellung am 15. Mai 2023 - eine mehr als verdiente Auszeit! Und eine intensiv genutzte Besinnungspause in einer Gruppe von Flüchtlingen, die sich vorher in ihrem Heimatland gar nicht kannten - wie Valentina und Svitlana (im Foto unten links) - und sich hier in Freundschaft verbunden haben. Oder ihre Verbindung ungetrennt fortsetzen können, wie Ehepaar Tetiana und Yaroslav (im Foto unten rechts), die mit ihren drei Kindern als Familie, wehrfähiger Vater unter 60 inklusive, geschlossen ausreisen durften:
"Bekannte Fotos der Ukraine
aus den besten Zeiten"
Tetiana (Baby) schreibt am nächsten Tag das Schlusswort zur virtuellen Foto-Exkursion in ihr Heimatland:
Und ich gebe den herzlichen Dank unserer Gruppe an unseren Ausstellungsbegleiter Sebastian Stude dazu.
*****
Die Ausstellung
ist bis zum 11. Oktober 2023 zu sehen:
mo - mi, fr 9:00 - 15:00 Uhr
do 9:00 - 18:00 Uhr
in der
Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung
Heinrich-Mann-Allee 107
14473 Potsdam
Kontakt:
Dr. Sebastian Stude
0331 8663541
www.politische-bildung-brandenburg.de
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