"Klassik Open Air - Musikalische Sommerreise" mit dem Berliner Residenz Orchester durch das Europa des 17. und 18. Jahrhunderts
Es ist Ende Juli, der Sommer am Schwielowsee ist in full swing. Zur "Musikalischen Sommerreise" vor dem Schloss Caputh schlendern am frühen Abend geladene und zahlungswillige Gäste aus dem Ort und weiteren Umfeld, kleiner Stopp am Check-in mit gelockerten Pandemie-Schutz-Empfehlungen, dann noch eben an der Frischestation mit Sekt und Selters vorbei und wohlgeleitet von jugendlichen Billeteuren zu den Zweiersitzplätzen auf der Wiese. Diese freundlichen Wegweiser sind eine Zeiterscheinung zwischen den fortlaufenden Viruswellen. Mit mehr Fantasie, stelle ich mir vor, stimmen sie das Publikum auf höfisches Zeremoniell in der entlegenen Epoche des Barock ein.
Da tritt er auch schon auf, der Showmaster, standes- und zeitgemäß, und wünscht dem verehrten Publikum "einen harmonischen musikalischen Sommerabend".
Sein Outfit, der letzte Schrei im französischen Barock: Enge Kniehosen bis zur Wade, dazu elegante Seidenstrümpfe und Halbschuhe mit Schleife und Absätzen. Darüber ein knielanger Uniformrock mit faltenreichem Rockschoß und patierten Seitentaschen, eng anliegend in der Taille, knopf- und kragenlos. Aus Röhrenärmeln mit großen Aufschlägen fallen die Rüschenman-schetten eines üppigen Seidenhemdes auf seine Hände. Nicht zu vergessen: die Perücke, ondoliert, bezopft und staatsmännisch weiß gepudert. Der junge Sonnenkönig Ludwig XIV. war Mode-Ikone und hatte dies Tracht hoffähig gemacht.
Mode war Männersache im Barock! Alexandra Rossmann am Cembalo hinten auf der Bühne ist genderaktuell Chefin des Orchesters und schaut amüsiert-skeptisch auf ihren zeitlich entrückten Orchesterkollegen, den Bariton Ulf Dirk Mädler.
Denn Singen ist sein eigentliches Metier!
Mit getragener Stimme ertönt in der Arie "Ye blustering brethren" Mädlers eindringliche Bitte: "Let Britannia rise in triumph over the main[land]". Ein Beitrag zur jüngsten EU-Politik und Geschichte!? Könnte man meinen. Aber nein, wir sind ja hier auf einer entspannten Kulturveranstaltung auf dem Festland! Der legendäre keltische König Artus aus dem sagenhaften Mittelalter lässt sich vernehmen, mit kriegerischer Entschlossenheit, dem Sachsenkönig Oswald die eroberten Gebiete des Königreichs wieder abzuringen. Alles halbwegs Phantasie verwoben mit überlieferter Geschichte! Henry Purcell vertonte in seiner Oper "King Arthur" das Libretto von John Dryden. 1691 uraufgeführt in London, konnte Purcells Arie die Sehnsucht der Briten nach nationaler Einheit und imperialer Größe nähren.
Wenig später im Programm erklingt eine weitere der wenigen Arien aus Henry Purcells Semi-Oper. Diese britische Variante der Barockoper sieht Gesangsstücke nur für herausragende Rollen vor, während andere Figuren als Sprechrollen besetzt sind und Musik dabei eine untermalende Funktion hat. In der Arie "What power art thou" (Welche Macht bist du) leiht Bariton Mädler seine bewusst monoton geführte Singstimme dem kalten Geist. Stockend, fast stotternd will dieser der Verlockung des Cupidus zu körperlichen Sinnesfreunden entsagen. Todessehnsucht angesichts der Vergänglichkeit des Lebens - das Vanitas-Motiv des Barock wird hörbar in dieser Frostszene: "Let me, let me freeze again to death". Ein Frösteln greift nach uns auf der Caputher Sommerwiese bei 30 Grad im frühen Abendschatten. Aber hören Sie doch selbst hinein in Purcells musikalische Version des barocken Memento-mori-Lebensgefühls:
((video 1: kommt))
Wer's poppiger erleben möchte, hört sich die musikalische Frostszene in der New-Wave-Version "Cold Song" an, die Klaus Nomi in den 1980er-Jahren populär machte.
Welch ein Revival nach fast 300 Jahren! Purcells Musik konnte sich nur schwer gegen die zeitgenössische französische, italienische und deutsche Konkurrenz auf dem Festland durchsetzen. Mit seiner Mischung aus konventionellen und ungewöhnlichen Klangelementen galt er als unberechenbar. Für uns Nachgeborene auch wunderbar. Zwei Purcell-Stationen von insgesamt 13 auf dieser "Musikalischen Sommerreise", die uns in 75 Minuten kreuz und quer durch Europa führt. Das Berliner Residenz Orchester lässt keine langen Weilen aufkommen, schickt uns durch die Höhen und Tiefen barocker Klänge und Lebensgefühle.
"Und diese Nach sei lieblich, eine Nacht der Fröhlichkeit"
Es bleibt nicht bei der Erinnerung an die eigene Nichtigkeit. Barock kann auch anders: das Leben im Diesseits genießen, dankbar sein für jeden Tag, der mit Zufriedenheit verbracht wird, auch mal über die Stränge schlagen, tanzen bis zum Umfallen, lieben ohne Reue ... Zum barocken Hochgefühl liefert musikalisch die Noten Jean-Baptiste Lully mit "Chaconne", einem beschwingten Balletttanz, den er als Ouverture zur Komödie "L'amour médicine" von Molière komponierte. Lullys populärer Stil befriedigte die Tanzbegeisterung der Epoche bei Hofe wie auf dörflichen Festen. "Chaconne", 1665 im Schloss Versailles uraufgeführt, 2021 vor Schloss Caputh frisch gecovered - so manches Tanzbein im Publikum schwingt in verhaltener Sitzgebärde und so mancher Blick schweift zum Sitzpartner oder auch inwändig: "Die Liebe als Arzt" - eine ebenso schlichte wie vielversprechende, aber keineswegs käufliche Paartherapie, bei Molière eher eine Satire auf den Berufsstand der Ärzte, die aus seiner Sicht lukrativ über Leichen gehen statt charitativ Patienten zu retten.
Und mit Tanz geht es weiter. Der italienische Beitrag stammt aus dem Notenbuch von Luigi Boccherini. Mit kleinen, zierlichen Schritten drehten sich auf dem gesellschaftlichen Parkett europäischer Höfe die Paare zu seinem "Menuett und Trio" für variable Streicherbesetzung. Das Menuett - eine höfische Tanzkunst im späten 17. Jahrhundert, improvisiert und zugleich nach strengen Regeln verlaufend, mit nur einem Tanzpaar vor Publikum. Der restlichen Gesellschaft entging kein faux pas, falscher Schritt.
In Caputh gilt unsere Aufmerksamkeit den Musikern des Berliner Residenz Orchesters
Hier geht es nicht um Choreographie auf dem Parkett, sondern um die konzertierte Aktion von Soloinstrumentalisten und Sängern. Orchesterleiterin Alexandra Rossmann spielt den Auftakt am Cembalo und gibt das Handzeichen für den Einsatz der Violinenfamilie auf der Schlossbühne: Mark Kagan und Léo Thouvenin-Mason an der 1. Violine, Viktoria Hartmann und Gloria Diaz an der 2., Sebastian Selke am Violoncello, Vinicius Diniz an der Bratsche und Jochen Carls am Kontrabass. Polly Ott (Sopran) und Ulf Dirk Mädler (Bariton) stimmen das Publikum gesanglich ein.
Die Alte Musik des Barock - der Auftakt zu einer innovativen Klangwelt
Im "Concerto grosso" von Charles Avison zur Eröffnung der Musikalischen Sommerreise wechseln die Tempi von ruhig über lebendig zu anmutig; Instrumente spielen solo oder mit dem vollen Orchester. Instrumentalstücke wie dieses oder auch Lullys Tanz "Chaconne", Bachs "Air", Mozarts "Kleine Nachmusik" und Vivaldis "Konzert für Flöte Piccolo" gelten heute unter Veranstaltern klassischer Events als must haves. Den Konzertgängern ebenfalls. Zur Entstehungszeit jedoch waren solche Großformen der Instrumentalmusik unheard-of - unerhört im echten Wortsinn: gänzlich unbekannt und zugleich einmalig. Denn zuvor war Instrumentalmusik an Gesang gekoppelt. Im Barock wird sie autonom. Ein volles Orchester mit kleinen Solistengruppen - wie den Violinen oder der Flöte im Berliner Residenz Orchester - hatte Pionierqualität. Einen ebenso großen Stellenwert wie das Instrumentalkonzert nahm die Oper im Barock ein, auch sie ein neues Genre, das der höfischen Repräsentation diente und genauso gut für Volksspektakel sorgte.
Und dann erleben wir live ein Flötensolo von Yasuko Fuchs: "Canta in prato - Singe auf der Wiese". Antonio Vivaldi holte die Blockflöte aus der Amateurmusik in die Konzertsäle für Adel und Bürgertum. Die Solistin entlockt ihrem Instrument heitere Flötentöne, wie für einen Volkstanz im Freien gemacht.
Auch das Instrumentalstück "Air" (ital. aria) von Johann Sebastian Bach klingt luftig-leicht durch den Sommerabend. Ein Lied ohne Gesang. Das Publikum entspannt sich nach den schwermütigen Themen und Tönen in den vorherigen Gesangsstücken.
"Lass mich beweinen mein grausames Schicksal und mich nach Freiheit sehnen"
Gravitätisch in langsamem Dreiertakt sich bewegend - so stelle ich mir den Gesellschaftstanz zu Georg Friedrich Händels Klagelied "Lascia ch'io pianga" aus seiner Oper "Rinaldo" vor. Polly Otts glockenheller Sopran versprüht den trotzigen Stolz der Christin Alminera in sarazenischer Gefangenschaft. Der Videoclip von knapp über einer Minute gibt eine Kostprobe davon, wie in diesem Lied die Stimmen - vokalisch wie instrumental - wetteifern.
Das elegante höfische Bühnenkostüm der Sängerin steht auch in ihrer nächsten Gesangsrolle als triumphierende biblische Judith in auffälligem Kontrast zu dieser kämpferischen Frauengestalt. Es geht um Mord. Am Besatzer und Oberbefehlshaber Holofernes, der Judiths Heimatstadt belagert und den sie hinterlistig mit ihren Reizen als geneigten Lover gewinnt. Judith braucht für ihre geplante Meucheltat psychologischen Support. In der Arie "Armatae face" aus Vivaldis Oratorium "Juditha triumphans" beschwört Poly Ott inbrünstig "schlangenumwundene Furien", die Judiths Plan in die Tat umsetzen sollen: "mit Peitsche, Mord und Metzelei", ganz im Sinne griechischen Rachegöttinnen und alttestamentarischer Vergeltung.
"In Treue ewig dein"
Versöhnlicher klingt es im Schlussduett der beiden Sänger. Die Arie "Sempre attorno qual colomba" beendet das Opernintermezzo "La Contadina astuta"(Die listige Bäuerin) von Giovanni Battista Pergolesi. Nach einer Reihe Tricks und Täuschungen gelingt es dem Bauern-mädchen Livietta, den Gauner Tracollo mit List und Koketterie zur Liebe und zu einem besseren Leben mit ihr zu bewegen.
Eine auflockernde Thematik, ein belebender Wechsel der Singstimmen, ein männlich galantes und weiblich lockendes Mimenspiel - Polly Ott und Ulf Dirk Mädler füllen brillant ihre barocken Genderrollen.
Und entlassen das Publikum fantasievoll in die Niederungen des barocken Gesellschaftslebens - und zurück in die reale Abendkühle vor Schloss Caputh.
Eine höfliche Verabschiedung des Publikums - und der Zeremonienmeister schreitet von der Bühne. Der Applaus schwillt an. Eine Zugabe kommt. Die Musiker treten ab. Die freiwilligen Konzerthelfer räumen auf.
Mit den Klängen der "Kleinen Nachtmusik" im Kopf und elektronischen Speicher klingt für mich dieses fulminante Barockerlebnis aus: auf der heimischen Terrasse vor nächtlicher Kulisse.
***
Das Berliner Residenz Orchester kommt wieder. Noch in diesem Sommer!
Am Sa, 04.09. 2021, 18:30 Uhr.
Und mit neuem Programm: "Serenade unter
Sternen - Klassik Open Air Schloss Caputh". Bei Regen in der Kirche Caputh.
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